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Ein Adrenalinschub jagte durch ihren Körper. Ihr Herz pochte so heftig, dass es sie zu würgen begann und sie Sorge hatte, sich auf der Stelle zu übergeben. Mila riss die Augen auf, aber es dauerte trotzdem noch einige Augenblicke, bis sie begriff, dass sie sich in ihrem Zimmer befand und nicht an dem Ort, der sie das Fürchten gelehrt hatte. Nach jedem Albtraum fiel es ihr schwer, wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren, zu real wirkten die Bilder in ihrem Kopf, als dass sie mit einem erleichterten Seufzen darüber hinweggehen könnte. Auch wenn ihr niemand glaubte, war sie sich sicher, dass sie nicht ihrer Einbildung entsprangen. Sie legte ihre zitternde Hand aufs Herz, als ob sie es durch die beruhigende Geste verlangsamen könnte.
Es klopfte an der Tür und Mila zuckte erneut zusammen. Herrje, was war sie empfindlich. Es konnte doch nur ihre Freundin sein, die vor der Tür stand.„Ja?“, rief sie mit unnatürlich hoher Stimme.
„Bist du wach? Ich habe dich rufen gehört und war mir nicht sicher, ob ich dich wecken soll.“Der Lichtschein des Flurs ließ sie Laras Umrisse erkennen. Sie knipste ihre Nachttischlampe an und bedeutete ihrer Mitbewohnerin reinzukommen.Lara setzte sich vorsichtig auf ihre Bettkante und nahm ihre Hand. „Du bist ja ganz verschwitzt. Hast du wieder schlecht geträumt?“

Mila versuchte ein beruhigendes Lächeln aufzusetzen, was ihr gründlich misslang. Deshalb gab sie zu: „Ja, es ist wieder der gleiche Traum gewesen. Danke, dass du mich geweckt hast. Hast du schon geschlafen?“ Ihre schuldbewusste Miene schien Lara zu veranlassen, rasch zu antworten: „Keine Sorge, es ist noch nicht mal zehn Uhr, ich habe noch gelesen.“Sie legte den Arm um Milas Schultern und nach einem Moment des Schweigens fragte sie vorsichtig: „Hast du dir schon überlegt, ob du eine Therapie machen möchtest? Vielleicht kehrt dann deine Erinnerung zurück. Und es gäbe unter Umständen eine Möglichkeit, Ha …“
„Ich kann nicht! Allein der Gedanken mit jemandem außer dir und Tommy darüber zu sprechen, macht mich fertig.“ Wie zur Bestätigung hob sie ihre Hand, die heftig zitterte. Sie hatte ihre Freundin unterbrochen, um zu verhindern, dass Lara den verhassten Namen aussprach. „Ich will das Ganze einfach vergessen. Mir wird es bestimmt bessergehen, wenn etwas Zeit vergangen ist.“
Lara öffnete den Mund und Mila war sich sicher, dass sie ihr ins Gewissen reden wollte, aber wahrscheinlich brachte sie ihr bleiches Gesicht zur Einsicht. Mila konnte sich schon denken, wie furchtbar sie aussehen musste. Sie wusste ja selbst, dass eine Therapie unabdingbar war, aber momentan ging es einfach nicht. Vielleicht war sie in ein paar Wochen oder Monaten so weit, aber sie musste sich Zeit geben, dass Erlebte irgendwie zu bewältigen.
Sie schlug die Bettdecke zurück und stand auf. „Ich kann jetzt sowieso nicht mehr schlafen. Hast du Lust einen Film mit mir zu sehen?“Lara stimmte zu ihrer Erleichterung zu, denn sie wollte gerade nicht allein sein.
Am nächsten Morgen konnten beide ausschlafen, da Laras Aushilfe das Café öffnen würde. Um zehn Uhr traf die verschlafene Lara ihre Freundin in der Küche an.
„Bist du schon lange wach?“ Sie nahm sich eine Tasse und goss sich einen Kaffee ein.
„Konnte nicht mehr schlafen“, wiegelte Mila ab, während sie sich hinter dem Vorhang ihres Bobs zu verstecken versuchte. Lara ging zu ihrer Erleichterung nicht auf ihren Albtraum ein, sondern fragte, ob sie abends nach der Arbeit mit ihr Spazieren gehen wollte.
Nachdem Mila zugestimmt hatte, froh, dass ihre Freundin ein paar Stunden des Tages mit ihr überbrückte, trank sie einen Schluck ihres Milchkaffees, bevor sie sich ihrer Freundin anvertraute.„Mir geht die ganze Zeit etwas im Kopf herum und ich weiß nicht, was ich tun soll.“Auf Laras neugierigen Blick, erklärte sie zögerlich: „Tommy hat bald Geburtstag und er möchte, dass ich zu seiner Feier komme.“
„Du hast Angst, es könnte dir zu viel werden?“, fragte Lara behutsam.
„Ich bekomme schon Panik, wenn ich nur daran denke, mit vielen fremden Leuten in einem Raum zu sein. Aber er wird Dreißig und hat in der letzten Zeit so viel für mich getan, da ist es doch das Mindeste, was ich tun kann.“
„Du sollst das tun, was dir guttut.“
Mila seufzte und versuchte ihr begreiflich zu machen, dass sie selbst nicht wusste, was gut für sie war.
„Tommy hätte dich doch nicht eingeladen, wenn er nicht der Meinung wäre, dass du es packst.“
Mila stellte ihre Tasse hin, an der sie sich bisher festgehalten hatte und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht, als würde sie dadurch Klarheit erlangen.„Ich werde es probieren, ihm zuliebe, aber auch, weil ich mich endlich mal meinen Problemen stellen muss. Immer davonrennen, bringt hilft mir auch nicht weiter.“
Lara kam zu ihr und drückte ihr ein Küsschen auf die Stirn. „Du bist eine Kämpferin. Wenn was ist, du kannst mich jederzeit anrufen, dann hole ich dich ab.“„Danke, das ist lieb von dir. Tommy hat mir auch schon angeboten, mich heimzufahren, aber das möchte ich nicht. Dann würde er ewig auf seiner eigenen Party fehlen und müsste anschließend den anderen erklären, warum er mich heimbringt. Ich werde einfach mit dem Bus fahren, da fühle ich mich sicherer, als mit der U-Bahn.“
Kurze Zeit später hatte sich Lara verabschiedet, da sie zur Arbeit musste. Vor Mila lag ein langer Tag, an dem sie wieder nichts mit sich anzufangen wusste. Wenigstens hatte sie wieder mit ihrem Praktikum begonnen. Zwar kostete es sie unglaublich viel Willenskraft dort hinzugehen, aber dennoch konnte sie sich dort wenigstens etwas ablenken. Jetzt am Wochenende würde sie sich wahrscheinlich nachher wieder ins Bett verkrümeln und ihre Flucht im Schlaf suchen. Zuvor benötigte sie allerdings noch ein Geschenk für Tommy. Da sie sich außerstande sah, in die Stadt zu fahren, holte sie ihren Laptop und machte sie auf die Suche nach etwas Besonderem, womit sie ihm eine Freude machen konnte.

Eine Woche später fand Tommys Geburtstagsfeier statt. Mila wusste nicht mehr, wie sie ihre wackeligen Beine zur Busstation getragen hatten. Nun saß sie endlich im Bus und hatte vor lauter Nervosität schon fünfmal überprüft, ob sich sein Geschenk auf wirklich in ihrer Handtasche befand. Sie hatte sich für einen Gutschein für einen Fotografiekurs entschieden, den ein renommierter Fotograf abhielt, dessen Arbeit Tommy toll fand. Als begeisterter Amateurfotograf würde er sich sicherlich darüber freuen und sie wahrscheinlich zugleich schimpfen, so viel Geld ausgegeben zu haben. Aber es war ihr ein Bedürfnis Tommy zu zeigen, wie viel er ihr bedeutete.
Ohne ihn hätte sie die letzten Monate nicht überstanden. Das wusste sie, er war ihr Halt in der düstersten Stunde ihres Lebens gewesen und er war ihr bester Freund und Vertrauter geworden. Vor ihm hatte sie keine Geheimnisse und obwohl er alles über sie wusste, stand er ihr dennoch bei und war immer für sie da. Vor ihm brauchte sie sich nicht zu schämen, ihm brauchte sie nichts zu erklären, er wusste genau, wie es in ihr aussah.
Endlich hatte sie die Haltestelle erreicht, als sie ausstieg fühlte sie leisen Stolz in sich aufsteigen, die erste Hürde überwunden zu haben. Aber die große Bewährungsprobe stand ihr noch bevor. Dagegen erschien ihr die Busfahrt wie der reinste Kindergeburtstag.Ihre Schritte wurden immer zögerlicher, als sie sich Tommys Wohnung näherte. Das Blut rauschte in ihren Ohren und sie atmete immer hastiger. Sie musste sich beruhigen, so konnte sie unmöglich auf seiner Party erscheinen, in dem desolaten Zustand würde sie augenblicklich im Fokus der Gäste stehen. Vor der Haustür blieb sie stehen, schloss die Augen und rief sich Tommys Gesicht vor Augen. In seiner Gesellschaft fühlte sie sich immer sicher und geborgen. Was sollte ihr auf seiner Party, bei ihm zu Hause schon geschehen? Er war da und würde ihr beistehen. Langsam spürte sie, wie sich ihr Pulsschlag etwas normalisierte, und energisch drückte sie die Klingel, bevor sie es sich noch einmal anders überlegte.Als Tommy sie kurze Zeit später an seiner Wohnungstür erwartete und sie in seine warmen Augen blickte, die sie liebevoll musterten, natürlich wusste er genau, wie es in ihr aussah, wurde sie schlagartig ruhig. Tommy war da und mit ihm an ihrer Seite würde sie alles schaffen.

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